Stürmische Nacht


3.


Manche werfen den Brüdern und Schwestern der zwölf Stämme vor, dass sie Mitglieder einer fundamentalischen, christlichen Sekte seien, die andere Mitmenschen mit ihrer vorgeheuchelten Herzlichkeit, nur für ihre unentgeltliche Arbeit gewinnen wolle. Ich hingegen behaupte, die frommen, zuvorkommenden Gläubigen der zwölf Stämme sind einfache, gute Menschen, auch wenn die Medien, zumindestens bei uns in Deutschland gern etwas anderes berichten.

 

Die den Mitgliedern der zwölf Stämme in Deutschland vorgeworfene Misshandlung von Kindern wurde in mehreren Gerichtsverfahren bestätigt, woraufhin die in Deutschland lebenden Mitglieder nach Skalná in Tschechien übersiedelten. Dort scheint die körperliche Bestrafung von Kindern nicht ausnahmslos untersagt. Mir erzählten Isaac und Sara eine andere Geschichte, die ich für durchaus nachvollziehbar halte, von der ich vielleicht später noch berichten werde.

Die Mitglieder der zwölf Stämme sehen sich als äußerst bibelfest und fühlen sich der Tradition des Urchristentums verbunden. Hier in Ulia haben sie sich ein kleines Paradies geschaffen, zumindestens erscheint es einem müden Pilger so, wenn er um Einlass und einen Schlafplatz bittet, der ihm mit lächelnden Augen und warmen Worten alsgleich und ohne viel Tamtam gewährt wird.

Hier gibt es eine eigene, kleine Bäckerei, die man am Anfang mühselig, aber inzwischen äußerst erfolgreich etabliert hat und die inzwischen eine Reihe von Geschäften in San Sebastian, wie auch ein in Eigenregie betriebenes Kulturcafé beliefert. Die Glaubensgemeinschaft betreibt des weiteren mehrere Bioläden, eine kleine Buchdruckerei und eine noch im Aufbau befindliche Rinderzucht, die gerade den Kinderschuhen entwächst. Eine Gärtnerei und eine Näherei sind als nächste Projekte geplant.

 

Als Gründer der Zwölf Stämme gilt Elbert Eugene Spriggs, ein US – Amerkianer, ehemaliger Pädagoge und Anhänger der Jesus-People-Bewegung, der in den frühen 1970er Jahren in Chattanooga (Tennessee) Jugendliche und junge Erwachsene in einer sogenannten Light Brigade um sich sammelte.

 

Als ich an der Herberge der zwölf Stämme angekommen war, zog sich der Himmel  minütlich, mit dunkler werdenden Wolkenherden zu, die zu einer schwarzen Wand anwuchs. Es donnerte mehrmals heftig in der Ferne. Mir wurde ein schöner Schlafplatz für die Nacht gezeigt. Ich konnte mich duschen und meine Unterwäsche und meine Socken waschen.  Freundlich wurde ich von Isaac, einem der Glaubensbrüder zum Abendessen eingeladen. Er kümmere sich im Moment mit seiner Frau, Sara um den Herbergsbetrieb. Heute seien nicht viele Gäste da, ließ er mich wissen, aber ab Mitte Mai würde es hier durchaus voller und lebhafter zugehen.

 

Als meine frisch gewaschene Wäsche auf der Leine unter einem Abdach hing, sah ich mich ein wenig auf dem Gelände um. Es tröpfele bereits. Im Garten hatte ein Reisender gerade seinen Esel versorgt und kümmerte sich nun um seinen zweiten Reisebegleiter, einen jungen, schwarzen Mischlingshund. Es gab hier viele Bäume, große Lavendelbüsche und Rosensträucher. An einem Tisch auf der überdachten Veranda saß ein Mann, Anfang fünfzig, der sich bald als deutscher Pliger vorstellte und der nach seinen eigenen Angaben bereits seit gestern hier weilte. Er war von dieser Herberge und ihrem Ambiente so angenehm überrascht und dankbar gewesen, dass er den ganzen Tag damit verbracht hatte, für die Glaubensbrüder- und Schwestern Holz zu sägen, zu hacken und dieses Brennholz dann fachgerecht aufzustapeln. Nun blickte er zufrieden auf sein Tagwerk. Er hieß Günter Strileck und er kam aus der Nähe von Leipzig. Es war seine erste Pilgereise.

Bald waren wir in ein intensives Gespräch vertieft. Das Donnern wurde immer lauter und es würde bald ein mächtiges Unwetter geben. Eine junge Österreicherin war inzwischen auch wegen einer Unterkunft für die Nacht vorstellig geworden und auch ihr war freundlichst Einlass geboten worden.

Günter Strileck hatte in den letzten Jahren eine Menge an Schicksalsschlägen zu verkraften gehabt. Finanziell hatte er als Besitzer von drei Telekommunikationsläden ausgesorgt. Aber die Scheidung von seiner Frau hatte ihn dennoch ganz schön aus der Bahn geworfen. „Das war nicht schön“, murmelte er immer mal wieder. „Da hatt´se sich nach fünfundzwanzig Jahren Ehe, kurz vor der Silberhochzeit ´nen jungen Kerl aufgerissen und von einem auf den anderen Tag war ´se weg.“

 

Dann starb der Schwiegervater, mit dem er sich zeitlebens gut verstanden hatte an Krebs. Der einzige Sohn verunglückte kurz darauf tödlich bei einem Motorradunfall und die ältere von zwei Töchtern verlor ihr Kind im sechsten Monat der Schwangerschaft. Gründe genug, einen äußerst bodenstämmigen Mann aus der Bahn zu werfen. „Weeste ich hatte mir den Baum schon ausgesucht, vor den ich fahren wollte. Drei Kannister Benzin lagen im Kofferraum meines Opels, den Strick hatte ich schon um den Hals gelegt. Aber dann war ich doch zu feige, es zu beenden!“

„Das war doch gut so“, sprach ich ihm Mut zu. „Sonst wärst du jetzt nicht hier!“ Günter wischte sich über die feuchtgewordenen Augen. „Nu ja, du hascht ja Recht!“ Es donnerte wieder heftig und dann begann es zu regnen, wie ich es noch nie hatte regnen sehen.

 

Ein Sturzbach aus der Senkrechten ergoß sich. Blitze schlugen zornesbebend in der näheren Umgebung ein, es donnerte, dass einem Angst und Bange werden konnte.

Wir flüchteten in die Albergue und sahen dem widrigen Wetter mit grimmigen Blicken zu. Nach zehn Minuten ebbte der große Regen ab, nach zwanzig Minuten war der ganze Spuk vorbei, aber ein stürmischer Wind zog nun von der Küste her auf und riß die dunkle Wolkenwand bald auf. Es war gegen zwanzig Uhr als Isaac wieder auf der Bildfläche erschien. „Nichts passiert“, beruhigte er uns und bat darum am Abendbrottisch Platz zu nehmen.


Günter und ich, nahmen die Einladung gern an und auch die Österreicherin, die sich als Patrizia vorstellte, gesellte sich zu uns. Nach einer Weile kam auch der Reisende, der sich vorhin im Garten aufgehalten hatte zu uns an den Tisch. Er hieß Xaver, war schweizer Staatsbürger, nannte sich selbst Weltenbürger und war schon seit drei Jahren mit Hund und Esel unterwegs auf Reisen.


Isaac kam aus der Küche zurück und stellte eine große Salatschlüssel auf den Tisch. „Bedient Euch, Freunde!“ Sara, Isaac´s Frau brachte frisches Brot, Balsamicoessig und Olivenöl und setzte sich zu uns an den Tisch. Sie sprach englisch mit uns, war gebürtige Brasilianerin und hatte viele Jahre in der Nähe von Sáo Paulo gelebt.
Nachden wir geklärt und erklärt hatten, wer wir alle waren, woher wir kamen und wohin wir wollten, war eine lebhaftige, lustige Gesprächsrunde entbrannt, an der sich jeder ausgiebig und neugierig beteiligte. Der Salat schmeckte großartig, knackige Paprika, Ruccola, Zucchini und Tomaten, die noch wirklich nach Tomaten schmecken, dazu frische Zwiebeln und Mais, einfach köstlich. Als Hauptgang wurde uns Pasta mit einer köstlichen Tomatensauce serviert, die sich als ebenso  köstlich erwies, da konnte man gern einmal auf alles Fleisch dieser Welt verzichten

Patrizia war IT - Administratorin in einen großen Aluminiumwerk in der Nähe von Linz gewesen. Von einen auf dem anderen Tag erzählte sie uns mit traurigem Blick, wurde sie auf Geheiß des Managements, regelrecht aus der Firma gemobbt, nur  weil der Enkel des Seniorchefs ihren Job übernehmen sollte. Ihr Selbswertgefühl hatte darunter so derart gelitten, das sie starke Depressionen bekam und nach einem Jahr des Dahinvegetierens einen Selbstmordversuch mit Tabletten unternommen hatte. Nun hatte sie die Notbremse gezogen, war in eine Klinik gegangen, hatte sich therapieren lassen. Und nun war sie von Österreich aus aufgebrochen um sich, wie sie selber sagte selbst wieder zu finden. Drei Monate war sie bereits unterwegs.


Auch Xaver wußte einiges zu berichten. Er war sein Leben lang ein Weltenbummler gewesen, hatte daheim in der Nähe von Genf zwar eine Ehefrau, vier erwachsene Kinder und drei Enkelkinder, zu denen er zwischenzeitlich immer wieder gern zurückkehrte.
Aber wenn ihn dann die Abenteuerlust wieder überkam, wurde er schnell unruhig und musste eiligst wieder fort, hinaus in die weite Welt. Bis nach Moskau und Jerusalem hatten ihn seine letzen Reisen geführt und der Esel war immer dabeigewesen, fügte er mit etwas Stolz hinzu. Er hätte nie viel Geld gehabt, aber für ein paar gute Geschichten und ein paar nette Worte wäre ihm schon oft die größte Gastfreundschaft entgegen gebracht worden.

Weil seine Geschichten wirklich absolut spannend waren und er uns glaubhaft versichert hatte, das sein Esel die steile Trreppe am Leuchtturm kurz hinter Pasaia, ohne die geringste Mühe erklommen hatte, erhielt er auch heute Nacht sein warmes Quartier. Zum Abschluss des Abendessens servierte Sara noch wohlschmeckenden Matetee, dazu gab es Honig zum süßen und selbstgebackene Hafertaler. Auf Nachfrage von Xaver stand später sogar noch eine kurze Besichtigung der Bäckerei an, in der sich immer noch zwei nimmermüde, junge Männer mit der Herstellung von Magdalenas abmühten, einer Art spanischer Muffin.


Müde bedankten wir uns, Günter ließ es sich nicht nehmen noch beim Abwasch zu helfen. Ich hingegen war nun fertig mit der Welt und wollte nur noch in meinen Schlafsack kriechen.
Beim kramen in meinen Rucksack entdeckte ich noch eine Dose Bier, der ich dann doch nicht widerstehen konnte und die ich deshalb auch gleich öffnete. Günter hatte den Abwasch beendet und trat ins Zimmer ein.

„Trinkste dir noch ein Bierchen?“ Ich bejahte seine Frage. „Willst du auch?“ Ich hatte große Hoffnung gehegt, das mein Gegenüber diese Frage verneinen würde. Aber da hatte ich mich geirrt. So goß ich ihm die Hälfte des Getränkes in seinen Kaffeebecher und wir teilten uns brüderlich den wohlschmeckenden Gerstensaft.


Nach diesem unverhofften Nachtgetränk, ging Günter noch einmal nach unten um mit seiner Tochter zu telefonieren. Ich schrieb noch ein wenig in mein Handytagebuch, putzte mir noch rasch die Zähne und legte mich zufrieden in meinen Schlafsack. „Alles gut gelaufen und jetzt noch eine gute Mütze voll Schlaf“, sagte ein feines Stimmchen in meinem Kopf. Aber das Stimmchen hatte die Rechnung ohne Günter gemacht.


Denn Günter war kurz danach von seinem  ausdauernden Telefonat zurückgekehrt, hatte sich gleich in seinen Schlafsack begeben und war auch sofort eingeschlafen. Ich war fassungslos, schon wieder ein Schnarcher. Günter entpuppte sich als großartiger Konzertmeister des erschlaffenden Gaumensegels. Er sägte in dieser Nacht ganze Urwälder ab. Dagegen war selbst Kerstins Schnarchen aus der vergangenen Nacht zartbesaitet gewesen. Aber was will man machen, Pilgern ist halt keine Luxusreise!


Xaver, der Schweizer verschwand gegen eins aus dem Zimmer, er wollte sich dieses Konzert nicht antun. Ich mochte nicht ganz so schnell aufgeben und steckte mir zur Verringerung des Lärmpegels, gar ein paar zerrissene und dann aufgerollte Streifen eines alten Tempotaschentuches in die Ohren. Aber es half wenig, die ganze Nacht stürmte es zudem noch gehörig, und der Wind pfiff nur so durch den jungen Laubbesatz der Bäume. Das konnte morgen kein guter Tag werden, ging es mir durch den müden, alten Schädel und dann erwischte mich Hypnos der Geist des Schlafes doch noch und ich bekam ab halb vier, ein ganz klein wenig, wohltuender Ruhe.

 copyright by Hansjürgen Katzer 2018








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