Regenwetterwandern


4.

 

Der dritte Tag meiner Reise war angebrochen, heute wollte ich zumindestens bis Orio kommen. Gegen halb sieben war ich aufgestanden, hatte mich gewaschen, war auf den Hof des Anwesens gegangen um nach meiner Wäsche zu schauen, die ich dort unter einem Abdach zum Trocknen aufgehängt hatte. Aber da hing nichts mehr, sie war nicht mehr dort.

Ich grübelte einen Moment, vielleicht hatte der Sturmwind in der Nacht, sie einfach fortgeweht. Ich schaute mich um, suchte zwischen den Büschen, kletterte eine kleine Böschung hinunter. Nichts! Mißmutig kehrte ich in den kleinen Schlafraum zurück. Zumindest das Handy war wieder aufgeladen. Ich wickelte das Ladekabel zusammen und steckte es in die Seitentasche meines Rucksacks. Günter war inzwischen auch erwacht und gähnte herzhaft in seinem Schlafsack.

„Guten Morgen! Ich habe geschlafen, wie ein Bär!“ krächzte er mir entgegen. Ich grummelte ein kurzes „Guten Morgen“ zurück. Dann begann ich wortfaul meinen Rucksack, mit meinen weiteren Habseligkeiten voll zu stopfen, den Schlafsack zusammenzurollen und zurück in die Schutzhülle zu befördern. „Du hast geschnarcht, wie ein Sägewerksbesitzer“, murmelte ich schließlich doch mürrisch. „Nu ja, das lag sicher an dem Bier von gestern Abend“, entgegnete mir Günter trocken. Dann furzte er einmal kurz und schnappte sich Handtuch und Duschzeug und verließ den Raum.

Ich hatte fertiggepackt und brachte meinen Rucksack nach unten. Hier hatte man schon ein kleines Frühstück für uns vorbereitet. Es gab Marmelade und selbstgebackenes Brot, dazu je nach Belieben Kaffee oder Tee. Ich entschied mich für den Kaffee und fragte ob vielleicht jemand meine Wäsche gesehen hatte, die ich gestern zum Trocknen auf die Leine gehängt hatte. Schweigen! Keiner hatte sie gesehen, oder gar abgenommen. Sie blieb also verschwunden.

Draußen meldete sich der Esel von Xaver mit ohrenbetäubender Stimme und schaute neugierig durch eines der großen Fenster zu uns herein. Xaver hatte ihn gerade gefüttert und kam nun von draußen herein. Mir stockte kurz der Atem. Seine Füße zierten grau – schwarze Laufsocken der Marke „Falke“, Größe 46 und die Füße steckten in ausgetretenen, alten Sandalen. Komisch, sehr komisch, genau die selben Socken hatte ich gestern, frisch gewaschen aufgehängt. Aber würde Xaver, sie sich einfach so gemopst haben? Dazu mein IG – Metall Shirt und zwei ausgeleierte Unterhosen. Ich verwarf diesen Gedanken sogleich und beschloss mich damit abzufinden, dass mein Gepäck nun ein ganz klein wenig leichter geworden war.

Der Kaffee tat gut. Draußen hatte Nieselregen eingesetzt, sodaß ich erst mal den Regenponcho rauskramte. Sara brachte mir eine zweite Tasse Kaffee und ich bedankte mich höflich und schrieb ein paar freundliche Worte in das Gästebuch der Herberge. Dann bat ich um die Spendendose und ließ mich nicht lumpen und spendete großzügig.

Patrizia hatte die Albergue schon vor einer Stunde verlassen, ließ mich Xaver wissen. Er wollte erst gegen zehn Uhr aufbrechen, der Esel müsse erst noch sein Futter verdauen. Auch Günter, der inzwischen ebenfalls am Frühstückstisch Platz genommen hatte, hatte es nicht sonderlich eilig.

Ich bedankte mich noch einmal bei allen für die unbeschreibliche Gastfreundschaft, ließ mir einen obligatorischen Stempel in den Pilgerpaß drücken und schaute verdrossen nach draußen, wo der Regen langsam stärker wurde. Aber es half nichts, also riß ich den roten Regenponcho nun aus seiner Schutzhülle und zog ihm mit Saras tätiger Mithilfe wortkarg über. Es war immer schwierig das verdammte Teil über den Rucksack zu bekommen. Ich setzte meinen Pilgerhut auf, ergriff meine Wanderstöcke und trat hinaus vor die Tür. Ein kurzes Adieu, ein letztes Winken. Dann den Hund und den Esel streicheln, ein paar schnelle, letzte Fotos schießen und ich stand wieder auf meinem Pilgerweg, der mich nun erstmal bis San Sebastián bringen sollte.

Bald schwitzte ich wie ein Tier unter dem Regenponcho. Aber besser schweißnass, als regennass, dachte ich im Stillen und so ging ich langsam weiter. Nach einer dreiviertel Stunde konnte ich von einer Anhöhe aus, einen nebelverhangenen ersten Blick auf den Strand von San Sebastián werfen. Nach einer weiteren haben Stunde hatte ich die Uferpromenade erreicht und beschloß in einen Café erst einmal ein zweites Frühstück zu genießen. Ein Schokoladencroissant und ein Milchkaffee verbesserten meine Laune minütlich, die sich aber gleich wieder verfinsterte, als ich einen Blick in die ausliegende Tageszeitung warf.

Mit meinen bescheidenen, sehr eingeschränkten Spanischkenntnissen verstand ich zwar nicht alles. Aber man hatte in Bayonne am frühen Sonntagmorgen eine tote Pilgerin gefunden. Das Foto, das dazu abgedruckt war ließ für mich keinen Zweifel aufkommen, dies war die junge, rothaarige Irin, die mich in der Nacht von Samstag auf Sonntag wegen einer Unterkunft angesprochen hatte und der ich erklärt hatte, alle Hotels seien ausgebucht, sie solle es mal am Bahnhof versuchen.

Nun war diese junge Frau also umgebracht worden, konnte ich bei meinem weiteren Studium der Gazette erfahren. Man hatte sie erwürgt und sie dann in einer kleinen Seitenstrasse unter Müllsäcken und ausgedienten Kartons einfach abgelegt. Das hatte mich jetzt wirklich umgehauen. Ich bestellte mir einen doppelten Cognac. „Die Welt ist doch so verdammt schlecht“, ging es mir durch den Kopf und es fröstelte mich ein wenig, bei dem Gedanken, das ich vermutlich einer der letzten Menschen gewesen war, der die Kleine noch lebend gesehen hatte. Ob ich mich bei der Polizei melden sollte? Aber was würde das bringen? Ich hatte sie ja wirklich nur ganz kurz gesehen und kaum mehr als zwanzig Worte mit ihr gesprochen.

Inzwischen hatte mir Kerstin eine Nachricht über WhatsApp geschickt. Sie sei gestern doch noch der Route Napoleon gefolgt und habe es bis Orrison geschafft. Na immerhin, dachte ich, zumindest eine gute Nachricht!

San Sebastián bei Sonnenschein ist wunderschön. 2016 war die Stadt gemeinsam mit dem polnischen Breslau Kulturhauptstadt Europas. Fast zweihunderttausend Menschen leben derzeit hier. Berühmt ist die „La Concha“ (die Muschel), eine Bucht mit kilometerlangen Sandstränden und die kleine Felseninsel Santa Clara. Während des Francoregimes war die Stadt zudem immer im August, die Sommerresidenz des Diktators. Auch die Altstadt mit ihren vielen Bars und kleinen Geschäften bietet viele Touristenattraktionen.

Jetzt aber, bei diesem Schmuddelwetter trieb es mich rasch weiter. Über die Strandpromenade und den Fluß Urumea, gelangte ich bald an das Rathaus von San Sebastián, welches 1897 als Casino eröffnet, im Jahre 1947 zum Rathaus umfunktioniert wurde. Hier machte ich ein paar Fotos, sah eine ganze Zeitlang angestrengt den Wellen des Atlantiks zu, hastete dann eiligst weiter, immer noch schwitzend unter meinem roten Regenponcho und hatte die Stadt gegen Mittag über einen steilen Anstieg, der auch wieder über ein paar sehr verwinkelte Treppen führte verlassen.

In der Nähe von Igeldo, gab es eine anrührende Szenerie. Hier hatte ein vermeintlicher Pilgerfreund einen kleinen Stand mit kostenlosem Obst und Wasser aufgebaut. Rasch machte ich ein Foto und drückte mir auch den ausliegenden Stempel in meinen Pilgerpaß. Bislang hatte ich keine anderen Pilger gesehen. Aber nun überholte mich eine ältere Frau, jenseits der sechzig und zog raschen Schrittes von dannen. Der Regen hatte inzwischen aufgehört und so warf ich bald darauf den Regenponcho ab und verstaute ihn an meinem Rucksack. Meine Halbschuhe waren ganz schön durchnässt. Morgen würde ich dann wohl in den Wanderstiefeln weiterlaufen müssen, die in einem kleinen Sack, mit einem Karabinerhaken an meinem Rucksack befestigt, hin- und herbaumelten.

Über schmale Straßen und Schlammpisten, kam ich meinem heutigen Tagesziel Orio langsam näher und näher. Faziniert blieb ich unterwegs noch einmal kurz bei einer Herde Alpakas stehen, die friedlich im diesigen Nebel auf einer üppigen Weide grasten. Die letzten drei Kilometer, führten mich armen Pilger dann über eine ausgewaschene Pflastersteinpiste, die für meine arg rampomierten Bänder in beiden Füßen, zu einer wirklichen Gefahr und Tortour wurde. Einmal ordentlich umknicken und der Weg hätte sich für dieses Jahr erledigt! Aber mit Hilfe der Wanderstöcke meisterte ich auch diese Situation letztendlich. Zum Schluss der Etappe gab es noch einmal einem weiteren, schmerzhaften, steilen Anstieg, dann hatte ich mein heutiges Tagesziel, die Herberge San Martin erreicht.


copyright by Hansjürgen Katzer, 2018



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