1919

1919

Kartoffeln sind alle und das letzte Brot ist alle. Die alte Brennsuppe macht keinen richtig satt und was zum Leben bleibt, reicht vorn und hinten nicht.

Der große Krieg ist vorbei. Die Matrosen in Kiel hatten aufbegehrt, was schließlich zur Ausrufung der Republik führte und den Kaiser ins Exil fliehen ließ. Ebert hatte für den Januar Wahlen versprochen.

Wolfgang, mein Mann ist seit vier Monaten aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Der Krieg und die harte Zwangsarbeit in einem Kohlebergwerk in Montceau-les-Mines haben ihn alt und krank werden lassen. Wolfgang ist mir so fremd geworden und ich ekele mich vor ihm, wenn er mich wild und ungehemmt nimmt.

Er ist ein Tier geworden in diesem barbarischen Krieg. Kaum eine Nacht schläft er durch, wacht schreiend, nein kreischend auf und flüchetet dann aus der Bettstätte in die Kälte des Morgens.

In der Zeitung war zu lesen gewesen, das die beiden Kommunisten umgebracht worden waren, Liebknecht und Luxenburg, verlorene Hoffnung für Hunderttausende. Was für dunkele und traurige Zeiten!

Unsere fünf Kinder können sich vor Hunger manchmal kaum auf den dünnen Beinchen halten. Der Lohn in der Fabrik ist ein Hungerlohn. Nur Mittwochs ist manchmal ein halbwegs guter Tag. Da mach ich gegen Abend zum Müller rüber. Der ist verwitwet und Bürovorsteher in der alten Gewürzwarenfabrik am Bahnhof. Ich besorge ihm einmal in der Woche den Haushalt. Putzen, bügeln, Staub wischen für ein kleines Entgelt. Der Müller ist zuvorkommend und nett und manchmal zahlt er auch ein, zwei Mark mehr und verwöhnt mich mit Pralinen oder einem Gläschen Likör.

Wir Frauen dürfen nun zum ersten Mal wählen gehen. Am 19 Jänner ist es so weit. Das ist also dann die Errungenschaft der Republik? Kein Brot – Kein Haus – Keine Arbeit! Aber – hurra, nun haben wir die Qual der Wahl. Ich werde zu dieser Wahl gehen. Es muss sich etwas ändern.

Wolfgang sagt, wir müssten das Zentrum wählen, wir seien schließlich katholisch. Er hält nichts vom Wahlrecht für Frauen! Aber er wird mich nicht hindern können, mein Recht auszuüben. Viele Träume sind mir nicht geblieben. In der Arbeit bin ich jetzt in den Räte- und Rätinnenrat bestimmt worden. Aber immer mehr Frauen, werden aus dem Lohn- und Broterwerb, zurück an den Herd gedrängt. Die Männer, die der Krieg ausgespuckt hat, drängt es wieder zurück in die angestammten Plätze in den Fabrikhallen. Wolfgang ist noch nicht zurück in der Fabrik. Er war drei, viermal vorstellig geworden, aber niemand wollte ihn. Nun trinkt er stattdessen und sitzt den lieben langen Tag herum und sinniert vor sich hin, oder hört Marschmusik auf dem alten Grammophon meiner verstorbenen Mutter.

Lenchen unsere Älteste ist nun bald vierzehn. Karl und Hedwig unsere Zwillinge werden zehn. Wo werden sie sich in zwanzig Jahren wiederfinden? Lenchen wird bald in der Näherei anfangen, wenn sie im Sommer mit der Volksschule fertig ist. Wie hübsch das kleine Ding geworden ist. Ganz die Mama, würde Müller jetzt sagen.

Gestern Nacht hat mich Wolfgang fürchterlich verdroschen, als ich ihm nicht Willens war. Dann ist er besoffen ins Bett gefallen und gleich darauf eingeschlafen. Die beiden Kleinen haben alles mitbekommen und ich brauchte zwei Stunden um sie zu beruhigen. Heute morgen hat er mich kurz mit leeren Augen und schamesrot angschaut und ist gleich darauf verschwunden. Was bleibt vom Leben? Habe ich diesen Menschen wirklich einmal geliebt? Aber was bleibt, außer dem Bleiben?

Vielleicht könnte ich zu meiner Schwesrter ins Münsterländische rübermachen. Die haben einen alten Hof, der sie aber auch mehr schlecht als recht ernährt. Dort wären sechs hungrige Mäuler…, ach was!

Meine Periode ist schon seit fünf Wochen überfallig. Ein sechstes Kind in diesen Zeiten – Nein, das kann nicht gehen. Wolfgang hat heute morgen, das letzte Geld aus der alten Holzschatulle meiner Mutter an sich genommen. Wahrscheinlich sitzt er jetzt in irgendeinem schäbigen Gasthaus. Falls er wieder betrunken nach Hause kommt und mich wieder schlägt. Dann lasse ich mir das nicht mehr gefallen. Dann, ja dann mach ich das Aas einfach tot. Dann murks ich ihn ab! Ich wäre besser dran ohne Wolfgang und die Kinder ohne ihren versoffenen Vater sicher auch.

Was wird nur aus uns. In der Fabrik hat mir Dörte von einer Engelsmacherin in der Kantstraße erzählt. Die macht für drei Mark, mit einer heißen Stricknadel die ungewollten Kinder weg. Ich bin jetzt zweiunddreißig Jahre alt. Soll das jetzt schon das ganze, große Leben gewesen sein? Wir haben gerade erst Januar. Soll 1919 ein Jahr zum Besseren werden? Die Menschen werden mobiler, habe ich in der Zeitung bei Müller gelesen. Es gibt immer mehr Automobile auf den Straßen und in Berlin bauen sie gleich an drei neuen U-Bahnstrecken...

Berlin, ja das wäre was. Aber warum traumen, wo man doch genau weiß, das dieser Traum nie in Erfüllung geht! Es wird Nacht, ein kalter, langer, schwerer Tag ist es wieder gewesen. Zehn Stunden in der Fabrik für einen kargen Lohn. Kaum Geld für Kohlen und einen brennenden Ofen. Die Kinder sind hungrig in ihre Betten gekrochen und Wolfgang ist gegen zehn Uhr sturzbetrunken aus der Gosse zurückgekehrt. Gut, das er mich heute abend in Ruhe gelassen hat. Ich glaube, ich hätte ihm das lange Messer, das ich unter das Kopfkissen gelegt hatte, in den verdammten Leib gejagt.

Sein monotones Schnarchen neben mir, so liege ich wach. Wieviele Tage mag es so noch weitergehen? Tränen füllen meine Augen, Deutschland, Anfang 1919.

© Hansjürgen Katzer, September 2020

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